Hüttenwartin SAC Dammahütte - Alltagsgeschichten ein, Toter in der Hütte
Hüttenwartin SAC Dammahütte – Alltagsgeschichten ein Toter in der Hütte
11/30/2025


Ein Toter in der Hütte
Es war gegen Ende der Saison, an einem dieser goldenen Herbsttage, an denen die Luft klar ist und die Berge zum Greifen nah scheinen.
Unten über dem Göscheneralpsee lag eine dicke Nebeldecke, wie eine geschlossene Watteschicht.
Wir oben auf der Dammahütte dagegen standen in der wärmenden Sonne – hell, ruhig, friedlich.
Für diesen Tag war ein Ehepaar zum Übernachten angemeldet. Alles wirkte ruhig und überschaubar.
Doch am frühen Nachmittag kam ein einzelner Mann zur Hütte – etwa 74 Jahre alt, freundlich, aber sichtlich erschöpft vom Aufstieg.
Er fragte leise, ob ich noch einen Platz hätte und ob er sich ein wenig hinlegen dürfe.
Selbstverständlich durfte er. Ich richtete ihm schnell einen Platz her, gab ihm etwas Wasser und liess ihn ausruhen.
Oben bei mir waren meine drei Kinder und ein Ferienkind. Gemeinsam gingen wir später auf den grossen Stein unterhalb der Hütte, um zu sehen, ob das angemeldete Ehepaar vielleicht schon durch die Nebeldecke auf dem Weg nach oben war.
Nach etwa einer Dreiviertelstunde sagte ich zu den Kindern:
„Kommt, wir gehen hoch und schauen nach dem Mann. Vielleicht braucht er etwas.“
Schon als ich die Türe öffnete, bekam ich ein komisches Gefühl.
Im hinteren Raum war eine Glasscheibe. Ich schaute hindurch – er lag noch genau gleich wie zuvor.
Da wusste ich: Das ist gar nicht gut.
Ich ging hinein, versuchte den Puls zu fühlen – doch da war nichts mehr.
Ich rannte hinaus, auf den Felsvorsprung, und sah, wie das angemeldete Ehepaar den Weg hinaufkam.
Ich rief ihnen zu, und nur wenige Minuten später standen sie in der Hütte.
Wie es der Zufall wollte – oder wie man so schön sagt: Es fällt alles zu, was fällig ist – war die Frau Krankenschwester.
Sie untersuchte ihn sofort und sagte dann ruhig:
„Es gibt nichts mehr zu machen. Er ist gestorben.“
Ich rief die Rega an.
Doch trotz des schönsten Wetters auf der Hütte konnten sie nicht fliegen – die Nebelschicht unter uns war zu dicht und zu tief.
Wir waren oben in der Sonne, doch darunter lag ein weisser, undurchdringlicher Deckel.
Ich rief mehrmals an.
Vier Kinder, ein Ehepaar, ein Verstorbener in der Hütte – eine Situation, die man niemandem wünscht.
Der Verhörsrichter wurde eingeschaltet.
Seine Entscheidung war klar:
Der Verstorbene durfte nicht aus der Hütte gebracht werden, bevor er selbst gesehen hatte, was passiert war.
Doch der Verhörsrichter konnte ebenfalls nicht fliegen.
Und so standen wir da.
Trotz allem musste ich am Abend für das Ehepaar kochen.
Es gab Schweinshaxen, Kartoffelstock und Bohnen – ein Menü, das ich seither nie mehr vergessen habe.
Wir assen draussen.
Drinnen lag der verstorbene Mann, den wir nicht bewegen durften.
Mein jüngster Sohn Pascal hatte seinen Götti angerufen.
Er fuhr in Göschenen los – und eine Stunde und 45 Minuten später stand er bereits in der Hütte.
Gemeinsam riefen wir erneut die Rega und sogar eine zweite Helibasis in Erstfeld an.
Auch Ärztinnen und Ärzte waren involviert.
Doch die Antwort blieb dieselbe:
Solange der Nebel nicht aufriss – nichts möglich.
Der Verhörsrichter blieb hart:
Der Mann musste in der Hütte bleiben.
Erst gegen 21.30 Uhr kam endlich die Bewilligung:
Wir durften den Verstorbenen in den Leichensack legen und vor die Hütte bringen.
Eine schwere Arbeit, aber wir haben sie getan.
Für die Kinder – alle im ähnlichen Alter – war das natürlich sehr eindrücklich.
Sie waren ruhig, ernst, still.
Und mir wurde bewusst, wie stark sie in solchen Momenten waren.
In der Nacht schlief ich nicht im Hüttenwartezimmer, denn es grenzte direkt an den Raum mit dem Toten.
Immer wenn ich hinaus musste, rief ich Pascals Götti.
Es war eine dieser Nächte, die man nie vergisst.
Am nächsten Morgen, sobald der Nebel aufriss, kam der Helikopter mit dem Arzt.
Der Mann wurde offiziell untersucht und anschliessend ins Tal geflogen.
Später erfuhr ich, dass die Rega zwar Menschen in Not rettet und transportiert –
der Abtransport eines Verstorbenen gehört jedoch nicht zu ihren regulären Einsätzen.
Zwei Wochen später kam der Sohn des verstorbenen Mannes zur Hütte.
Er brachte jedem Kind und auch mir ein kleines Geschenk –
Spielsachen, Süssigkeiten, kleine Aufmerksamkeiten.
Eine Geste der Dankbarkeit und Wertschätzung, die uns alle sehr berührt hat.
Auch diese Saison endete anders, als ich es mir vorgestellt hatte.


